Publikation vom April 2015
Über die (Un-) Gleichbehandlung der Kinder
Einleitung
Das Schweizerische Zivilgesetzbuch sieht vor, dass die Kinder zu gleichen Teilen erben, also gleichberechtigt sind (Art. 457 Abs. 2 ZGB). Diese vom Gesetzgeber vorgesehene Grundregel entspricht in vielen Fällen dem Wunsch und der Vorstellung der Eltern, ihre Kinder in erbrechtlicher Hinsicht gleich zu behandeln. Häufig verzichten deshalb Eltern darauf, über ihren Nachlass letztwillig zu verfügen und ausdrückliche Anordnungen zu treffen.
Beim Tod des Vaters oder der Mutter kommt in diesem Fall das Gleichberechtigungsprinzip zum Tragen und die Kinder sind am Nachlass (allenfalls neben dem überlebenden Ehegatten) zu gleichen Teilen berechtigt. Viele Eltern lassen ihren Kindern aber bereits zu Lebzeiten grössere Vermögenswerte zukommen: Vielleicht wollen sie ein Kind z.B. beim Hauskauf unterstützen und das Geld noch „mit warmen Händen“ verteilen, oder sie wollen z.B. die spätere Erbteilung soweit wie möglich vorweg nehmen. Wollen die Eltern ihre Kinder gleich behandeln, können solche gut gemeinten lebzeitigen Zuwendungen im späteren Erbfall zu ungeahnten Schwierigkeiten führen. Im Folgenden werden zwei in der Praxis häufig auftretende Probleme herausgegriffen und grob skizziert.
1. Ist die lebzeitige Zuwendung überhaupt ein „Erbvorbezug“?
Die Bestimmungen über die Ausgleichung (Art. 626 ff. ZGB) haben die Gleichbehandlung der gesetzlichen Erben und insbesondere der Nachkommen des Erblassers zum Ziel. Über die Ausgleichung wird den gesetzlichen Erben bei der Erbteilung an ihre Erbquote angerechnet, was sie vom Erblasser zu dessen Lebzeiten als Vorempfang erhalten haben. Art. 626 Abs. 1 ZGB bestimmt als Grundsatz, dass die gesetzlichen Erben (das heisst auch die Kinder) lebzeitige Zuwendungen des Erblassers nur dann ausgleichen müssen, wenn dies der Erblasser so angeordnet hat (sog. gewillkürte Ausgleichung). Fehlt eine solche Anordnung, bleibt die lebzeitige Zuwendung im Nachlass unberücksichtigt (es sei denn, sie verletze Pflichtteile der anderen Erben).
In Abweichung von diesem Grundsatz zählt Art. 626 Abs. 2 ZGB nicht abschliessend einige Spezialfälle von Zuwendungen an Nachkommen auf, welche immer der Ausgleichung unterstehen, wenn der Erblasser nicht ausdrücklich das Gegenteil angeordnet hat (sog. gesetzliche Ausgleichung): Es sind dies Zuwendungen als Heiratsgut, Ausstattung, durch Vermögensabtretung oder Schulderlass etc. Unter den Begriff des Heiratsguts oder der Ausstattung fallen alle Zuwendungen, die der Existenzbegründung, -sicherung oder -verbesserung dienen. Eine Vermögensabtretung liegt dann vor, wenn ein ganzes Vermögen, eine Quote oder ein bedeutender Teil eines Vermögens übertragen wird. Der Schulderlass dürfte vor allem den Erlass von Darlehensforderungen gegen Nachkommen betreffen.
Zur Veranschaulichung (nach dem bekannten „Motorbootfall“; BGE 76 II 188 ff.):
Wenn die Mutter einer ihrer beiden Töchter für die Ausübung des Berufes als Pferdetherapeutin ein Pferd schenkt, ist das ein Fall der gesetzlichen Ausgleichung. Weil das Pferd der Berufsausübung und damit der Existenzbegründung der Tochter dient, wird diese Zuwendung im Nachlass der Mutter von Gesetzes wegen dem Erbteil der Tochter angerechnet. Die beiden Töchter sind gleichgestellt.
Schenkt aber die Mutter einer ihrer beiden Töchter das Pferd nur zum Zeitvertrieb, unterliegt diese Zuwendung unter Umständen nicht der gesetzlichen Ausgleichung, weil sie der Tochter nicht zur Existenzbegründung, -sicherung oder –verbesserung dient. In diesem Fall müsste die Mutter die Ausgleichungspflicht positiv anordnen: Andernfalls wäre die zu Lebzeiten begünstigte Tochter im Erbfall der Mutter besser gestellt als ihre Schwester und die Zuwendung bliebe unberücksichtigt.
Im Einzelfall können demnach je nach Art und Umfang der Zuwendung des Erblassers an das Kind und der Vermögensverhältnisse der Beteiligten erhebliche Unsicherheiten darüber bestehen, ob die Zuwendung der gesetzlichen Ausgleichung untersteht, oder ob die Ausgleichungspflicht vom Erblasser angeordnet werden muss. Wenn der Erblasser will, dass das begünstigte Kind sich die lebzeitige Zuwendung im zukünftigen Erbfall auf seinen Erbteil anrechnen lassen muss, sollte er deshalb in jedem Fall eine entsprechende Anordnung treffen.
2. Zu welchem Wert muss die lebzeitige Zuwendung ausgeglichen werden?
Gemäss Art. 630 Abs. 1 ZGB erfolgt die Ausgleichung von lebzeitigen Zuwendungen bzw. von „Erbvorbezügen“ nach dem Wert der Zuwendung zur Zeit des Erbganges oder, wenn die Sache vorher veräussert worden ist, nach dem dafür erzielten Erlös. Diese Bestimmung hat unter Umständen Konsequenzen, welche von den Eltern, die ihre Kinder gleich behandeln wollen, oft nicht bedacht werden: So sind Geldzuwendungen im Zuwendungsbetrag zum Ausgleich zu bringen (sog. Nominalwertprinzip), während bei lebzeitig zugewendeten Sachen (z.B. einer Liegenschaft) der Verkehrswert im Zeitpunkt des Erbganges auszugleichen ist.
Ein einfaches Beispiel verdeutlicht diese Problematik:
Der Vater stirbt im Jahr 2015 und hinterlässt zwei Kinder. Eine letztwillige Verfügung hat er nicht erstellt, weil er die gesetzliche Regelung, dass seine beiden Kinder je zur Hälfte erben, richtig findet. Sein Vermögen beträgt im Todeszeitpunkt CHF 2 Mio. Seiner Tochter hat der Vater im Jahr 2007 in Anrechnung an deren Erbteil eine Liegenschaft (damaliger Verkehrswert CHF 800‘000.00) als Erbvorbezug übertragen. Damit sein Sohn gleich behandelt wird, hat er diesem gleichzeitig den Betrag von CHF 800‘000.00 als Erbvorbezug zukommen lassen. Im Jahr 2015 ist die Liegenschaft der Tochter aufgrund der Preisentwicklungen im Immobilienmarkt CHF 1.1 Mio. wert. Aufgrund der Regelung von Art. 630 Abs. 1 ZGB muss sich die Tochter im Erbgang den Betrag von CHF 1.1 Mio. als Erbvorbezug anrechnen lassen, während der Sohn sich „nur“ CHF 800‘000.00 anrechnen lassen muss:
Vermögen Vater: | CHF | 2‘000‘000.00 |
Erbvorbezug Tochter: | CHF | 1‘100‘000.00 |
Erbvorbezug Sohn: | CHF | 800‘000.00 |
Nachlass total: | CHF | 3‘900‘000.00 |
Erbteil Sohn: | CHF | 1‘950‘000.00 |
abzügl. Erbvorbezug: | CHF | - 800‘000.00 |
Zuweisung an Sohn: | CHF | 1‘150‘000.00 |
Erbteil Tochter: | CHF | 1‘950‘000.00 |
abzügl. Erbvorbezug: | CHF | - 1‘100‘000.00 |
Zuweisung an Tochter: | CHF | 850‘000.00 |
Die Tochter erhält somit im Rahmen der Erbteilung vom vorhandenen Vermögen des Vaters nur CHF 850‘000.00, während der Sohn CHF 1‘150‘000.00 und damit fast 35% mehr erhält.
Schlussbemerkung
Die rechtzeitige und klare Regelung des eigenen Nachlasses mittels Testament oder Erbvertrag kann allen Beteiligten eine Menge Ärger und Kosten ersparen. Die zwei diskutierten Probleme zeigen beispielhaft, dass eine umsichtige Nachlassplanung auch dann nötig werden kann, wenn auf den ersten Blick eigentlich kein Regelungsbedarf besteht. Vor allem wenn grössere lebzeitige Zuwendungen an die eigenen Kinder erfolgen sollen, ist eine sorgfältige Vorbereitung und Planung unabdingbar. Gerade in solchen Fällen bietet sich der Abschluss eines Erbvertrags, in welchen alle Kinder (und auch der allenfalls vorhandene Ehegatte) eingebunden und sämtliche heiklen oder unklaren Punkte verbindlich geregelt werden, an.
Auch wenn Sie Ihren Nachlass bereits geplant und entsprechende Anordnungen getroffen haben gilt, dass die eigene Lebenssituation in regelmässigen Abständen überprüft werden sollte. Zentral ist dabei die Frage, ob das gewünschte Ziel mit der aktuellen Lösung (noch) erreicht werden kann.